Leben und Arbeiten in einer Combat Zone

Wie soll man sich Leben und Arbeiten in der Green Zone vorstellen? Aufschluss darüber kann ein Textauszug liefern, der aus dem Nachwort in Buchtas Buch von 2015 (Terror vor Europas Toren, S. 385-391) stammt:

 

"... und am 31. Juli 2005, nach einem zweiwöchigen Sicherheitstraining bei der UNAMI-Außenstelle in Amman (Jordanien), war es soweit. Ich kam

an Bord eines mit US-Soldaten und Munition vollgepackten US- Militärtransportflugzeugs auf dem Bagdader Militärflughafen an. Es lag ein

Hauch von Staub in der Luft und es war glutheiß, so heiß, dass ich glaubte, der Asphalt auf dem Rollfeld würde zerfließen. Der Himmel war klar, wolkenlos und von einem so tiefen Kornblumenblau, dass einem fast die Augen wehtaten, wenn man länger hineinschaute. Die Landschaft um den

Flughafen herum war eine knochentrockene Wüstensteppe in gelblichen und graubraunen Tönen: rundherum nur getarnte Flugzeughangars, Betonbunker, Sandsackstellungen mit Stacheldrahtverhauen, riesige Zeltlagerstätten für die ein- und ausfliegenden US-Soldaten und Zivilverwalter und irgendwo verstreut ein paar improvisierte Verwaltungsbaracken und angerostete trostlose Wohncontainer. Bei meiner Ankunft am nächsten Morgen in Bagdads Green Zone war die Backofenhitze des Sommersim Irak mit 49 Grad auf dem vorläufigen Höhepunkt angelangt – die Temperaturen zwischen Mai und Oktober, so sollte ich lernen, pendelten immer zwischen 45 und 50 Grad, bisweilen sogar leicht darüber. Und

nicht nur klimatisch kochte die Luft, auch politisch ging es heiß her. Die Verhandlungen über die neue Verfassung, die die USA mit aller Kraft

vorantrieben, drohten zu scheitern. Es lag eine große Anspannung in der Luft, und ich spürte köperlich von Anfang an so etwas wie lauernde

Gefahr. Fast täglich fielen Mörsergranaten und Raketen auf die Green Zone, manchmal mehrmals täglich. Da sie zumeist nur von hastig improvisierten Unterständen oder von den Ladeflächen von schnell weiterrasenden Pick-Up-Vans abgeschossen wurden, war die Zielgenauigkeit der Geschosse gering. Doch das beruhigte nicht wirklich …

 

UNAMI in der Green Zone ist eine 2003 eingerichtete UN-Friedensmission mit knapp 100 internationalen Mitarbeitern aus fast 30 Nationen.

Ihr Leiter war von November 2004 bis Ende 2007 der pakistanische Karrierediplomat Ashraf Qazi. Qazi war wiederum ein enger Vertrauter von General Parviz Musharraf, dem pro-amerikanischen Präsidenten Pakistans, der durch einen Armeeputsch an die Macht gekommen war.

Die Mission war in mehrere große Abteilungen aufgeteilt, mit jeweils ein bis zwei Dutzend Mitarbeitern. Die wichtigsten waren das Büro für

politische Angelegenheiten (Political Affairs Office., PAO), das Büro für Verfassungsfragen, das Büro für Wahlangelegenheiten, das Büro für

Menschenrechte, das Flüchtlingshilfebüro, die Generalverwaltung und das Sicherheitsbüro, das für unsere Sicherheit sorgte. Fragen der Sicherheit

wurden sehr groß geschrieben. Kein Wunder: Schließlich war das Fiasko des Lastwagenbombenanschlags von AQI vom August 2003, der

21 UNAMI-Mitarbeiter aus dem Leben riss, eine unvergessen bleibende Mahnung.



Untergebracht waren wir UNAMI-Leute an zwei Orten, an einem zum Schlafen und an einem zum Arbeiten. Das Arbeits-Camp, der Diwan-

Compound, befand sich auf dem Gelände der ehemaligen Militärakademie des irakischen Verteidigungsministeriums. Dort waren wir in

festen, gemauerten Steinhäusern untergebracht. Das gewährleistete relative Sicherheit, wenn Granaten auf die Dächer oder neben den Gebäuden

niedergingen. Als Schlafunterkunft diente UNAMI in den ersten zwei Jahren das Al-Rashid-Hotel, ein heruntergekommenes Luxushotel,

in dem die gestürzte Baath-Staatselite ihre ausländischen Gäste unterzubringen und auch gelegentlich wüst zu feiern pflegte. Nur einen Steinwurf weit entfernt, direkt gegenüber dem Al-Rashid-Hotel, lagen das irakische Parlament und die Büros des Premierministers und der Ministerien

– günstig gelegen also für mich und viele meiner Kollegen, die täglich immer mit Parlamentariern und Vertretern und Mitarbeitern der

Kabinettsverwaltung zu tun hatten. Mehrere hundert Parlamentarier und Politiker der Exekutive sowie Richter wohnten zusammen mit ihren Familien aus Furcht um ihr Leben nicht mehr in ihren Wohnungen in Bagdads Red Zone, sondern im Al-Rashid-Hotel. In den Fluren, Speises.len und Restaurants des Hotels trafen wir daher viele unserer Gesprächspartner auch nach der Arbeit wieder.

Morgens in den Speisesälen bildeten sich nach dem Frühstück immer informelle Fahrgemeinschaften der UNAMI-Leute. In kleinen Trossen

von fünf bis sechs Personen fuhren wir dann in gepanzerten Toyota-Jeeps die vier Kilometer bis zum Diwan-Camp, immer wieder unterbrochen

durch Kontrollen an einem halben Dutzend Check-Points. Sowohl das Al-Rashid-Hotel als auch der Diwan-Compound waren durch drei Verteidigungsringe gesichert, besetzt (von außen nach innen) von Einheiten aus US-Marines, georgischen Soldaten der Koalition der Willigen.

(MNF-I) und melanesischen Soldaten aus einem Bataillon, das der Fidschi- Inselstaat der UNO für gutes Entgelt zur Verfügung stellte. Wir

alle trugen täglich außerhalb der Büros die obligatorischen durchschnittlich zehn Kilogramm schweren Panzerwesten und einen blauen zwei Kilogramm schweren UNO-Stahlhelm, Kleidung, die beschwerlich ist, überall drückt und viele Schweißflecken verursacht.

 

Nachteilig an der Unterkunft im Al-Rashid-Hotel waren vor allemzwei Dinge. Das Hotel lag an zwei Seiten nur 50 Meter von der Sprengschutzmauer zur Red Zone entfernt. Das bot Heckenschützen der Aufständischen Gelegenheit, von nahegelegenen Hochhäusern aus regelmäßig in die Fenster des Hotels zu schießen. Um kein Ziel zu bieten, hielten wir unsere Zimmer zumeist mit Vorhängen verschlossen, was

diese auch tagsüber oftmals in düstere, muffige Grüfte verwandelte. Auf dem Dach des 14-stöckigen Hotels war immer eine acht Mann starke

Einheit von Scharfschützen der US-Armee postiert. Sie hielten die gegnerischen Scharfschützen in Schach und wurden alle acht Stunden abgelöst.



Ein anderer Nachteil ergab sich aus dem Umstand, dass ein Großteil derStrom- und Wasserversorgung des Hotels auch mit dem System der Red

Zone verbunden war. Und wenn dort, was sehr oft vorkam, Strom und Wasser ausfielen oder wieder einmal strengen Rationierungszyklen unterworfen waren, spürten wir das ebenfalls. Mindestens einmal die Woche hatten auch die UNAMI-Leute im Hotel für 24 Stunden oder länger

keinen Strom und kein Wasser. Das stimmte einen nicht immer frohgemut, abends ohne Aussicht auf Toilettenspülung, Dusche und Trinkwasser

nach einem langen Arbeitstag im Diwan-Camp wieder zurück in sein verstaubtes Hotelzimmer zu trotten.



Nach knapp zwei Jahren tauschten die UNO-Angestellten das Al-Rashid-Hotel gegen ein anderes Schlafquartier ein. Dieser Aufenthaltsort

war zu gefährlich geworden. Unter die irakischen Dauerhotelgäste aus Parlament und Regierung und ihre irakischen Besucher, die in nie

abreißenden Strömen täglich ins Hotel fluteten, hatten sich immer öfter suspekte Gestalten gemischt. Unsere UNAMI-Sicherheitsleute glaubten

unter ihnen etliche Kundschafter oder getarnte Kämpfer von AQI (Al-Qaida im Irak, den Vorläufer des IS) ausgemacht zu haben. Mit 100 internationalen UNO-Mitarbeitern wardas Hotel ein sehr prestigetr.chtiges Ziel für Aufständische – wir befanden uns auf einem Präsentierteller. Die Gefahr wurde immer greifbarer,nachdem der schwelende Bürgerkrieg im Februar 2006 offen und

in aller wilden Grausamkeit ausbrach. Bis dahin war auch schon in näherer oderweiterer Entfernung Kampfl.rm von Maschinengewehrfeuer, Bombenexplosionen oder Granateneinschlägen zu hören. Aber dies waren Ausnahmen. Ab Februar kehrte sich für Jahre alles um. Fortan waren Stunden der Ruhe ohne Gefechtslärm die rare Ausnahme.



Die Green Zone war Kerngebiet des früheren Regierungsviertels von Saddam Hussein gewesen, ihr Untergrund glich einem Schweizer K.se.

Dort verbarg sich ein weitverzweigtes Tunnelsystem von Hunderten unterirdischer geheimer Gänge und Stollen, die Saddams Präsidentenpalast

mit allen anderen Machtzentralen verbanden und bis weit in das Gebiet reichten, das nach 2003 zur Red Zone wurde. Allein in dem großen

Heizungs- und Belüftungskellergeschoss des Al-Rashid-Hotels gab es 40 Tunneleingänge, die in alle Richtungen führten und notdürftig verriegelt

oder vermauert waren. Bewacht wurden sie rund um die Uhr von bewaffneten Wächtern der von den USA angeworbenen und finanzierten MNF-I, (Multi-Nation Forces-Iraq). Zumeist waren es Peruaner, die wie schlichte Anden-Bauern aussahen und kein Wort Englisch verstanden. Wenn ich, was ein bis zwei Mal die Woche vorkam, zum Sporttraining in den Gymnastiksaal im Keller des Hotels ging, musste ich an einem dieser grimmig dreinblickenden Wächter vor den Tunneleingängen vorbei – er kam mir vor, als sei er ein der griechischen Sage entsprungener Zerberus, ein Höllenhund, der den Eingang zur Unterwelt bewacht.



Im Herbst 2006 zogen wir in ein anderes Schlafcamp in der Green Zone. Es war der sogenannte Tamimi-Compound, eine Containercamp-Siedlung, die bis dahin vom US-Ingenieurkorps des Pentagon genutzt worden war. Da wir nahe der US-Botschaft waren, hatten wir eine gute Infrastruktur und gesicherten Zugang zu Strom und Wasser. Jeder UNAMI-Mitarbeiter bekam einen 4 mal 3 Meter großen Wellblechcontainer, der gegen Granatsplittereinschläge von allen vier Seiten durch 1,50 Meter hohe Sandsackwälle notdürftig gesichert war. Der Nachteil war, dass es keinen effektiven Schutz gegen Granaten- und Raketenbeschuss von oben gab. Zwar wurden im Verlauf eines Jahres noch nachträglich und behelfsmäßig auf Stahlträgern zusätzliche dünne Schutzbleche auf die Dächer der Container gelegt– doch wusste jeder, dass sie, weil viel zu dünn, im Ernstfall nicht schützen würden und nur symbolisch die Illusion von Sicherheit boten. Die Anwesenheit des Todes war uns allen daher immer bewusst, auch wenn wir sie zu verdrängen suchten. Ich machte es mir zur Regel, diesen Gefahrenmomenten für mich selbst mit professioneller Distanz zu begegnen und sie – wenn möglich – nicht an mich heranzulassen.



Das Büro für politische Angelegenheiten (Political Affairs Office, PAO), in dem ich damals arbeitete, hatte zwölf internationale Mitarbeiter. Sie stammten aus Indien, Russland, Deutschland, Japan, Kanada, Südkorea, Frankreich, Sudan, USA und Großbritannien. Sie arbeiteten in drei Unterabteilungen,die sich jeweils mit den politischen Hauptthemen der großen Volksgruppen der Schiiten, Sunniten und Kurden befassten. Ich leitete die PAO-Unterabteilung für Schiiten und war für die Beobachtung der schiitischen Regierungsparteien und Oppositionsparteien sowie der irakisch-iranischenBeziehungen zuständig. Im PAO hatten wir auch sechs lokale irakische Mitarbeiter, die aus den großen Volksgruppen der arabischen Schiiten, der arabischen Sunniten und der Kurden stammten. Verstärkt wurde unser Team noch durch drei Sekretärinnen, eine irakische Christin mit griechischen Wurzeln, eine Kurdin und eine sunnitische Araberin. Trotz des Bürgerkriegs, der um uns und die Green Zone herum von 2006 an für fast drei Jahre tobte, kamen alle unsere Mitarbeiter gut miteinander aus. Von den scharfen Spannungen, der hasserfüllten Barbarei und den Gewaltexzessen, die das Land zerrissen, war unter ihnen wenig zu spüren.



Die Hauptaufgabe der lokalen irakischen Mitarbeiter war es, uns als Kontaktvermittler und Übersetzer zu dienen. Durch sie konnten wir

unsere Verbindungen zu Politikern des breiten irakischen Parteienspektrums mit seinen diffizilen ideologischen und konfessionell-ethnischen

Untergliederungen aufbauen und am Leben halten. Dabei war es von enormem Vorteil, lokale UN-Mitarbeiter zu beschäftigen, die entweder

der schiitisch-arabischen, der sunnitisch-arabischen oder der kurdischen Volksgruppe angehörten. Denn aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer

bestimmten Ethnie oder Konfession schafften sie es, mit konfessionell oder ethnisch gleichgerichteten Politikern schneller und besser als jeder

Internationale von UNAMI ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Unsere irakischen Mitarbeiter verdienten mit einem anfänglichen Monatsgehalt

von 1.000 US-Dollar ungewöhnlich gut im Vergleich zu der großen Mehrheit der übrigen Iraker. Bei UNAMI zu arbeiten, brachte aber

auch Härten und Gefahren mit sich. Alle von ihnen mussten sich möglichst unerkannt jeden Morgen durch einen der zwölf Check-Points in

die Green Zone hineinschleichen – eine mühsame und nervenzehrende Prozedur. Bevor sie am Sprengschutzwall anlangten, wechselten sie

mehrfach den Bus oder das Taxi, um mögliche Verfolger oder Spione abzuschütteln.



Ständig mussten sie damit rechnen, dass Feinde der US-Besatzungsmacht, die UNAMI mit den USA gleichsetzten, ihnen auf die Schliche kamen, wo und für wen sie arbeiteten. Die Aufständischen töteten solche Kollaborateure des Feindes gnadenlos, manchmal obendrein

auch die gesamte Familie. Ebenso große Furcht mussten sie vor den vielen hochprofessionellen Entführerbanden in Bagdad haben, von

denen es schätzungsweise 150 gab. Die Tageszeitungen waren voll von Nachrichten über die zahlreichen täglichen Entführungsfälle. Die Banden entführten keinesfalls nur offensichtlich wohlhabende Bank- oder Fabrikdirektoren, sondern auch Kleinunternehmer, Ladenbesitzer, Inhaber von

Tankstellen, Friseurläden, Fleischereien und Buchläden. Jeder Selbstständige oder höhere Verwaltungsangestellte, von dem sie glaubten, eine Lösegeldsumme von 50.000 bis 60.000 US-Dollar erpressen zu können, geriet ins Visier dieser Banden. Da irakische Familien in der Regel gro.

und mit vielen verwandten Stammesclans verbunden sind, konnten sie oft die Summe aufbringen, wenngleich die dabei gemachten Schulden

sie ebenso oft ruinierten. Meistens gingen die Entführungen gut aus, das

 

Lösegeld wurde für die Geisel eingetauscht. Aber es gab auch häufig tragische Ausnahmen, bei denen die Angehörigen der Geisel das Geld übergaben und im Gegenzug nur einen Leichnam erhielten – oder schlimmer noch, was auch gelegentlich vorkam, selbst entführt oder getötet wurden. Es gab weder Gewissheiten noch verlässliche Regeln. In einem Wort: es herrschte absolute Anarchie.

 

Mit einigen unserer irakischen Mitarbeiter habe ich Freundschaft geschlossen.Ein guter Freund war der Sunnit Nihad al-Samarai, ein früherer

Geschäftsmann und Inhaber einer kleinen Fabrik für Haushaltswaren. Sein Bruder, Ayad al-Samarai, ein Führungskader der gemäßigt

islamistischen Sunnitenpartei der IIP, wurde 2009 sogar für ein Jahr Parlamentspräsident Nihad war zwar fromm, aber auf eine milde, ganz und

gar unaufdringliche Weise, er war dabei sehr weltoffen, tolerant und wissbegierig. In der Ära von Saddam hatte er sich, was ganz und gar nicht karriereförderlich war, geweigert, Mitglied der Baath-Partei . Das schwächte seine Position in den harten Kämpfen, die er mitzunehmen werden konkurrierenden Firmenchefs, die dem Saddam-Regime nahestanden,auszufechten hatte. Um ihn auszuschalten, griffen seine Rivalen letzten Endes sogar auf die Hilfe der Geheimdienste zurück. Ende 1999 hatten sie für ihn einen Autounfall mitten in Bagdad arrangiert., den Nihad nur schwerverletzt überlebte. ...."

 

..... Das Leiden meiner Freunde und Kollegen ging mir persönlich immer sehr unter die Haut. So erging es mir auch im Fall meines guten alten Freundes Fleih al-Suwaidi. Aber wer ist Fleih, wie lernte ich ihn kennen? Fleih, im Zivilberuf Bauingenieur, war nach 23-jährigem Exil im Iran2004 nach Bagdad zurückgekehrt und gehörte seit 2005 zu den lokalen irakischen Mitarbeitern, die wir im .Political Affairs Office. in Bagdad

besch.ftigten. Fleih ist Schiit – das war einer der Hauptgründe, warum ich mich zu Beginn meines UNAMI-Jobs sehr stark dafür eingesetzt hatte,

ihn einzustellen. Erstaunlicherweise gab es bis dahin im PAO (Political Affairs Office) keinen einzigen Schiiten unter den lokalen Mitarbeitern, obwohl die schiitischen Araber bekanntlich zwischen 60 und 65 Prozent der Bevölkerung

stellen.

 

2002 hatte ich Fleih in Teheran durch Vermittlung meines Freundes Hassan Abdolrahman kennengelernt. Bisweilen sprach ich Fleih mit Abu

Hassan (dt. etwa: Vater von Hassan.) an, gemäß dem arabischen Brauch, eine Person nach dem ältesten Sohn zu benennen. Fleih mochte diese Geste, die er stets mit einem breiten zufriedenen Lächeln quittierte und mich darauf Abu Kiyan., nach meinem ältesten Sohn, nannte. Fleih, ein kleiner stämmiger Mann, Mitte fünfzig, mit graumeliertem dünnem Bart, ist ein Mensch, der stets ein freundliches und offenes Lächeln auf den

 Lippen trägt. Er hatte in den 1970er Jahren in Mossul Bauingenieurwesen studiert. In Mossul hatte er sich dann mit einigen anderen schiitischen

Kommilitonen, darunter dem sp.teren irakischen Premierminister Ibrahim al-Jaafari, zusammengetan. Sie alle wurden Mitglieder der

verbotenen oppositionellen Daawa-Partei von Ayatollah Baqir al-Sadr. Zwischen Mitte und Ende der 1970er Jahre hatten die Geheimdienstschergen von Saddam Fleih und einige andere M.nner aus seiner Familie wiederholt verhaftet, weil sie sie der Daawa-Parteimitgliedschaft

verdächtigten. Fleihs Bruder wurde in der Haft getötet, und auch Fleih erlitt bei seiner letzten Inhaftierung schwerste Folter. Die Folterknechte Saddam Husseins hatten ihm Teile der Kopfhaut abgeschnitten, ihn wochenlang mit Knüppeln geschlagen, Elektroschocks verabreicht und ihn

tagelang mit hinter dem Rücken gebundenen Armen an die Decke seiner Zelle gehängt. Damit nicht genug: Zum Schluss hatten sie ihm lange Eisenbahnschwellen genau durch die Kniegelenke gehämmert. Insbesondere die Folgen der letzteren Folter machten Fleih auch 25 Jahre danach im Alltag noch zu schaffen. Er hinkte sichtlich und konnte auch nur langsam

gehen.

 

Fleih, so bemerkte ich im Laufe der Jahre immer wieder, verkörperte auf typische Weise die Widersprüche und Ambivalenzen der irakischen

Schiiten. Den meisten Westlern war (und ist) nicht bekannt, dass es Brüche und Spannungen in der kollektiven Psyche der Schiiten des

Irak gab. In vielen von ihnen lebten zwei Seelen in einer Brust. Der eine Pol war ihr ausgeprägter irakisch-arabischer Patriotismus und ihr Stolz,

Araber im Irak zu sein, dem historischen Herzland der Schiiten, in dem die Schia ihren Ausgang nahm und dessen Erde die Gr.ber der meisten

der schiitischen Imame barg. Der andere Pol war ihre sich aus der Historie und gemeinsamen Konfessionszugehörigkeit speisende Nähe und Freundschaft zu den Persisch sprechenden Schiiten im Nachbarland Iran, in dem die islamische Konfession der Schia schon seit einem halben Jahrtausend Staatsreligion war. Doch war ihr Verhältnis zu den iranischen Schiiten immer gespalten und nie frei von Spannungen.

Immer spielte auch Rivalität eine Rolle, zumal die iranischen Herrscher und theologischen Autoritäten immer versucht hatten, ihren "kleinen irakischen Brüdern" unter dem Vorwand selbstloser brüderlicher Hilfe ihren Willen aufzuzwingen.

Keiner verkörperte dieses ambivalente Verh.ltnis besser als Fleih. Im Frühjahr 1980 hatte Saddam Hussein Ayatollah Baqir al-Sadr und dessen

Schwester, Bint al-Huda, verhaften und nach grausamen Foltern schließlich grausam ermorden lassen. Und zugleich setzte eine erbarmungslose Hetzjagd auf alle Führer und Mitglieder der Daawa-Partei ein. Wer konnte, floh ins politische Exil ins Ausland, die meisten davon in den Iran.

Mit knapper Not gelang auch Fleih die Flucht in den Iran. Fortan lebte er mit seiner Familie in Teheran und verdiente seinen Lebensunterhalt als Bauingenieur für iranische und westliche Firmen. Als ich ihn 2002 in Teheran kennenlernte, arbeitete er für eine österreichische Firma, die Aufzüge in Zentralschächten des gewaltigen Bauprojekts der U-Bahn von Teheran installierte. Nebenbei engagierte er sich auch als Vorstand eines mehrere hundert Mitglieder zählenden Verbands von irakischen Ingenieuren im Iran, deren Interessen und Klagen er sowohl den iranischen Verwaltungsbehörden als auch westlichen Botschaften vortrug. Vermutlich bildete das Gefühl, von den Iranern diskriminiert zu werden,

das einigende Band zwischen Fleih und Hassan Abdolrahman, meinem amerikanischen Freund im Iran. Das also machte sie, wie mir vorkam, zu mit Pech und Schwefel verschworenen Brüdern.

Hassan hatte mir gelegentlich geklagt, dass ihn die Iraner manchmal offen, meistens aber durch die Blume als Sunniten und Schwarzen diskriminierten. Fleih hingegen sprach in Teheran wenig von der Diskriminierung durch die iranischen Gastgeber. Aber dennoch spürte ich öfters, dass auch er darunter litt. Umgekehrt erfuhr ich auch zum ersten Mal durch ihn, dass das Verhältnis zwischen iranischen Revolutionsgeistlichen und den irakischen schiitischen Oppositionellen bereits vor der Revolution von 1979 durch Misshelligkeiten getrübt war. Eine der seltenen von ihm verratenen Anekdoten über das Verhalten von Ayatollah Khomeini während des Exils im irakischen Nadschaf bebildert dies sehr gut. Glaubt man der heutigen iranischen Regierungspropaganda nach 1979, war das Verhältnis zwischen dem vom Schah 1964 ins irakische Exil abgeschobenen Khomeini und Ayatollah Baqir al-Sadr, dem Begründer der politisch aktiven Schia, von Freundschaft und Kooperation geprägt, wobei nach iranischer Lesart der jüngere al-Sadr sich dem älteren Khomeini unterworfen haben soll. 

 

Fleih, der Verwandte in Nadschaf hat, berichtete mir eine andere Version er Geschichte. Er schilderte, dass er während der Zeit von Khomeinis Exil in Najaf (1964-1978) oft dort weilte und er und seine Freunde von der Daawa-Partei sich gelegentlich zum Freitagsgebet in Khomeinis bevorzugter Moschee einfanden, um hinter ihm das Gemeinschaftsgebet zu verrichten. Von einem Tag auf den anderen blieben aber er und seine Freunde fort. Was war geschehen? Fleih erzählte mir, dass er und seine irakischen Daawa-Parteigenossen eines Tages direkt hinter Khomeinis Rücken in der zweiten Reihe gebetet hatten. Dabei vernahmen er und seine Freunde etwas, was sie zutiefst verstörte und erzürnte. Sie hörten, dass Khomeini die jedes Gebet einleitende fatiha, das obligatorische arabische Vaterunser des Islam, das als erste Sure den Koran einleitet, nicht auf Arabisch, sondern auf Persisch rezitierte. Das empfanden sie als schiere Blasphemie. Und so verzichteten sie fortan in stillem Protest auf jede weitere Teilnahme an einem von Khomeini geleiteten Freitagsgebet.


Im Oktober 2008 kam Fleih für eine Woche nicht zur Arbeit. Sein Schwager war mit dem Bus unterwegs gewesen, um Verwandten in Nadschaf

zu besuchen. Reisen dorthin sind immer riskant, weil man südlich von Bagdad eine Reihe von sunnitischen Kleinstädten passiert, die als

Hochburgen der Aufst.ndischen gelten. Mitten auf dem Weg wurde der Bus, in dem Fleihs Schwager saß, von uniformierten Soldaten angehalten,

die das Gepäck und die Identität der Buspassagiere kontrollierten. Rasch stellte sich heraus, dass es keine Regierungssoldaten, sondern verkleidete

Kämpfer von Al-Qaid in Iraq (dem Vorläufer des heutigen IS) waren. Nachdem sie durch Kontrolle der Ausweispapiere und das Abfragen der Vornamen der Passagiere herausgefunden hatten, wer Sunnit und wer Schiit war, wurden die Schiiten vom Rest abgesondert. Dann schnitten sie den Schiiten mit Säbeln die Köpfe ab. Dieser Mord nahm Fleih seelisch sehr mit und ließ auch mich nicht unberührt.


Auffällig oft rezitierte Fleih in den Monaten danach im Büro in den Arbeitspausen begeistert aus dem Buch Nahj al-Balagha, einer dem ersten Imam der Schiiten, Ali, zugeschriebenen Sprüche- und Redensammlung, die auf die Morallehre der Schia seit 1000 Jahren großen Einfluss hat. Viele dieser Aphorismen und Sentenzen zeugen von einer tiefen philosophischen Weisheit und einer Idee von Humanität, die Staunen macht. Der Imam Ali, wie er in diesem Buch erscheint, ist ein Anführer, der seine Anhänger aufruft, wilde innere Instinkte, etwa Grausamkeit und Rachsucht, zu zügeln und zu überwinden. Er fordert die gläubigen Muslime stattdessen auf, Vergebung, Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe zu

praktizieren. Irgendwann begriff ich, dass Fleihs Verhalten – und auch sein Entschluss, auf blinde Rache an seinen früheren sunnitischen Folterknechten im Irak zu verzichten – aus dieser Quelle herrührte. Offenbar war dies für ihn eine unerschöpfliche Quelle, aus der er innere Festigkeit und Seelenfrieden gewann – eine Quelle, die nie versiegte, um um die ich ihn beneidete.


Die geschilderten Ereignisse aus dem Leben einiger meiner Mitarbeiter im Political Affairs Office von UNMAMI bebildern, wie das Leben vieler Iraker seit 2003 aussieht. Die Gewalt und die Grausamkeit, die im Irak herrschen, sind für die meisten Bewohner westlicher, demokratischer Staaten undenkbar, Menschen, die nur das Leben in einer vergleichsweise beruhigten, vor Staatswillkür, religiösem Bombenterror und Brutalität geschützten Gesellschaft kennen. Und dennoch: Viele meiner Mitarbeiter schafften es, trotz widrigster Umstände weder ihre moralischen Grundsätze noch ihre Hoffnung aufzugeben. Es waren Menschen, die wie Nihad, Fleih und viele andere, die ich kennen und schätzen gelernt habe, unbeirrt ihrem inneren Kompass folgten und nicht aufgaben, für ein besseres und menschlicheres Morgen zu kämpfen. Ich bin dankbar, dass ich diesen Menschen begegnen durfte, Menschen, die keine großen Helden sind, die aber durch ihre bescheidenen täglichen Worte und Taten daran mitarbeiten, die Hoffnung im Irak nicht sterben zu lassen."

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